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Neitzel braucht mehr Mertesacker

Im fast 90-minütigen Interview spricht Kiels Cheftrainer Karsten Neitzel über seinen Arbeitsplatz, seltsame Erwartungshaltungen und die Mertesacker-Mentalität.

 

Herr Neitzel, wir haben ihren ehemaligen Chef an der Seitenlinie, Andreas Bergmann, gefragt, was besonders an Ihnen wäre. Herr Bergmann sagte nach süffisantem Überlegen, dass Sie vor allem mit einer speziellen Autogrammkarte aufwarten könnten. Erzählen Sie mal.
Na klar, da gibt es diese eine etwas spezielle Autogrammkarte. Wenn man meinen Namen googelt, dann kommt unter den ersten drei Bildern dieses hässliche Relikt aus den 90ern. Ich habe meinen Sohn mal damit beauftragt, dass er das Bild entfernen lassen soll. Geklappt hat es, wie sie ja sehen können, nicht so wie gewollt. Gibt aber Schlimmeres, oder?

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Die Autogrammkarte.

Ganz Mike Werner war es ja nun nicht.
Ja, das stimmt. Es ist ja so, ich habe zuvor lange Jahre bei Dynamo Dresden gespielt, einem damaligen Polizeiverein. Da wurde extrem auf die Frisur geachtet, die möglichst kurz sein sollte. Als es dann nach Halle ging, habe ich den Lappen drei Jahre stehen lassen und ihn quasi mit nach Stuttgart zu den Kickers genommen. Ein halbes Jahr bevor es nach Freiburg ging, war er dann aber auch Geschichte und wurde gestutzt.

Dass wir mit Andreas Bergmann und seiner Anekdote eingestiegen sind, kam nicht von ungefähr. Anders als Ihr ehemaliger Trainerpartner sind Sie ja noch in Amt und Würden. Das nach einer zugegeben sehr turbulenten Saison. Spricht das für das Kieler Umfeld, oder sollte das Allgemein Gang und Gebe sein?
Da muss man differenzieren. Wichtig ist zunächst einmal, dass die Verantwortlichen bei den Vereinen ein Gefühl für ihren Trainer entwickeln. Das kann ja am besten derjenige, der am nächsten an der Mannschaft und demnach auch am Trainer dran ist. Der weiß, wie die tägliche Trainingsarbeit aussieht. Das sind bei Holstein Kiel Andreas Bornemann und Wolfgang Schwenke gewesen. Beide besitzen enorm viel Erfahrung im Profisport, speziell im Umgang mit Situationen, wenn es mal nicht wie gewünscht läuft. Das haben wir als Trainerteam registriert.

Wie würden Sie dann rückblickend die Saison analysieren? Ist die KSV Holstein da gelandet wo sie sportlich hingehörte?
Das sind wir nicht. Rein sportlich hätten wir mit Sicherheit sechs, sieben Plätze weiter vorne stehen müssen. Durch den Klassenhalt am letzten Spieltag wurde ja viel über das „blaue Auge“ philosophiert, im Endeffekt bleibt aber festzuhalten, dass wir die Punkte für den Klassenerhalt bereits vier Spieltage zuvor eingefahren hatten.

Kann das auf die kommende Saison umgemünzt nicht ein Vorteil sein? Die Erwartungshaltung sollte doch bei einem „fast“ abgestiegenen Klub geringer sein, als bei einem Verein, der souveräner Zehnter geworden ist.
Solche Gedanken gehen ja einem selbst durch den Kopf. Mit der Erwartungshaltung ist es von Außen nicht so. Die Erwartung ist schon hoch in Kiel, doch das ist in Ordnung.

Wie hoch ist sie denn?
Nach dem Sieg in Darmstadt stand in einer Zeitung, dass Platz 1 bis 5 im kommenden Jahr das Ziel sein sollte. Da komme ich nicht ganz mit, obwohl ich mich ja auch intensiv mit diversen Forderungen und Stimmungen auseinandersetze.

Wichtiger ist uns ja, was Sie für die kommende Saison erwarten.
Primäres Ziel ist es natürlich, die Mannschaft im Vergleich zum letzten Jahr noch einmal zu verstärken. Dafür eignet sich natürlich die Transferperiode, da man in dieser Phase die Chance besitzt, notwendige Ausbesserungen im Kader vorzunehmen. Heißt, Spieler zu verpflichten, die sich im letzten Jahr vielleicht als fehlend erwiesen haben. Unser Ziel bemesse ich eher in der Punkteausbeute als anhand der reinen Tabellensituation. Wir haben in der letzten Saison 45 Punkte geholt, in der kommenden Spielzeit sollen es mehr sein. Ich denke, damit sollte ein klar besserer Platz als der letztjährige sechzehnte Rang möglich sein.

Ist das alles, oder dürfen wir das als pures Understatement verstehen?
Nein, natürlich wollen wir irgendwann ein ernstzunehmender Drittligist sein, der um die ganz große Wurst mitspielt und vielleicht dann auch wenig später an einem Montagabend auflaufen kann. Aber es ist nun mal so, dass der zweite nach dem ersten Schritt gesetzt wird.

Erfahrene Spieler, die bereits am Montagabend gekickt oder zumindest auf der Bank saßen, haben Sie geholt. Sind Sie damit zufrieden?
Für uns war bei der Kaderplanung wichtig, dass wir Spieler nur von außerhalb holen, wenn wir davon überzeugt sind, dass sie uns auf ein anderes Level hieven. Dass sie uns leistungstechnisch besser machen. Um den Kader auf dritter, vierter Position zu stärken, muss man ja nicht auf Einkaufstour gehen, sondern kann auf Talente aus dem eigenen Nachwuchs zurückgreifen. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, ich bin zufrieden, da wir in personeller Hinsicht das äußerst enggestaffelte Niveau der Liga halten konnten.

Wenn Sie vom enggestaffelten Leistungsniveau sprechen, dann bedeutet das ja, dass es vor allem auf die Trainer ankommt. Derjenige gewinnt, der am besten das Spielermaterial zu nutzen weiß.
Das kann man schon so sehen. Das ist ja das gute an dieser Liga, dass man sich mit intelligenter und kontinuierlicher Arbeit auch ganz schnell weit vorne anstellen darf und mit dem Augen nicht nur im Rückspiegel hängt.

Um die Frage noch ein wenig fortzuführen: Wer ist der bessere Trainer: Der mit dem schönsten Fußball, oder der mit der reichsten Punktausbeute?
Für die breite Öffentlichkeit ist der Trainer besser, der am Saisonende mehr Punkte geholt hat.

Wie sehen Sie das?
Wir haben zum Saisonstart schon sehr attraktiven Fußball gespielt und diesem mit erfolgreichen Resultaten gepaart. Das ist natürlich der Idealzustand. Dabei muss man jedoch auch ganz klar sagen, dass der sogenannte „attraktive“ Fußball deutlich schwerer zu installieren ist, als der Fußball gegen den Ball. Du kannst bei eigenem Ballbesitz keine Presspunkte ansetzen, keine Reihen sortieren. Da müssen die Spieler variabel im Kopf sein. Wenn wichtige Spieler ausfallen, kann man sich ja vorstellen, dass das erschwerend wirken kann. Umso wichtiger ist eine starke Bank im Fußball.

Einen Spieler zu ersetzen gehört ja zum Trainersein dazu. Viele Trainer „ersetzen“ aber nicht mehr nur nach Verletzungen und Sperren, sondern auch auf den Gegner abgestimmt. Ist die Stammmannschaft out?
Ich glaube schon. Es ist immer schön, wenn man über eine gewisse Periode eine Mannschaft zusammen hat. Bei der aktuellen Intensität und dem straffen Spielplan muss man schon variabel in seinen Aufstellungen sein. Dass die Ausrichtung des Gegners in taktische Belange einfließt, ist ja selbstverständlich. Ich hätte auch kein Problem damit, eine Mannschaft neu zu bestücken, die am Spieltag zuvor einen deutlichen Sieg feiern konnte. Das ist ja unsere Aufgabe als Trainer.

 

Bei der WM wurde ja viel von der Mannschaft hinter der Mannschaft gesprochen. Welche Rolle spielt dieser Punkt in Ihrer Arbeit mit der Mannschaft?
Eine große. Ich habe der Mannschaft letztens im Rahmen einer Besprechung ein Interview von Per Mertesacker gezeigt. Nicht das nach dem Algerien-Spiel, das ja mit der Eistonne eher etwas für den Boulevard war. Nein, das Mertesacker-Gespräch nach dem Frankreich Spiel war sehr interessant. Dort sagte er nämlich, dass auch der Bankplatz geil wäre. Das man da den Teamspirit aufnimmt, egal ob als Wasserträger, Witzbold oder Motivator. Dass eine Mannschaft nicht nur aus der Elf auf dem Platz besteht, sondern der gesamte Kader dazu gehört. Nur mit so einer Stimmung, mit so einer Einstellung, kann man als Mannschaft erfolgreich sein.

Sie klingen ja so, als ob Sie dieses Thema auch in Kiel sehr beschäftigt hat.
Ja, ich finde es einfach furchtbar, wenn als Spieler so getan wird, als ob die halbe Familie verstorben wäre, wenn man mal auf der Bank sitzt. Es muss doch möglich sein, dass Spieler sich für ihre Teamkollegen freuen, wenn diese sich einen Einsatz verdient haben. Auch das Gönnen muss man als Fußballprofi lernen. Vor dieser Aufgabe habe ich weiterhin Respekt. Nur weil es im letzten Jahr gut geklappt hat, heißt es ja nicht, dass es jetzt automatisch so weitergeht.

Vor allem wenn viele neue Spieler hinzugekommen sind.
Das ist es ja. Wir haben Spieler geholt, die wir wollten. Wir haben alle Spieler halten können, die fest eingeplant waren. Anders als im letzten Jahr, als noch ein sehr fest strukturierter Stammkader da war, kann es künftig durchaus passieren, dass Spieler auf der Bank sitzen oder gar nicht im Kader stehen, die eigentlich fest damit gerechnet hatten zu spielen.

Was ist denn Ihr Rezept neben den Videosequenzen prominenter Vorbilder um den Zusammenhalt zwischen den einzelnen Spielern und Ihrer Person zu wahren?
Den Spielern das Gefühl zu vermitteln, dass sie nach wie vor dabei sind. Sie mitnehmen, eventuell auch in den eigenen Gedanken miteinbeziehen. Ihnen dadurch andere Perspektiven vermitteln und dadurch auch Verständnis erzeugen. Wichtig ist dabei, dass das Autoritätsverhältnis zwischen Trainer und Spieler nicht verschwämmt.

Wie sieht der perfekte Spieler unter Karsten Neitzel denn aus?
Das Funkeln in den Augen, wenn es an die Rasenarbeit geht. ´Geil, Fußball!` ´Geil, Training!` Wenn das der Spieler ausstrahlt, dann ist auf seinen eigenen Weg schon sehr weit. Nur mit Begeisterung, die auch wir Trainer verkörpern müssen, kann man das aus dem Ei pellen, was unter der Schale sitzt.

Nicht mehr bei der KSV Holstein, schon gar nicht im Kader, ist Andreas Bornemann. Schon verdaut, dass sein Büro jetzt nicht mehr besetzt ist.
Es ist schon schade, dass es am Ende so gekommen ist. Gerade, weil wir ein sehr entwicklungsreiches Jahr gemeinsam absolviert haben.

Wolfgang Schwenke sagte uns, dass Sie in der Nachfolger-Suche involviert sind. Nun sind ja schon einige Monate vergangen, ein Nachfolger ist noch nicht Sicht. Wird die Stelle neu besetzt oder übernehmen Sie den Sportdirektor-Posten einfach mit.
Der Posten wird neu besetzt werden. Es kann auch noch ein paar Wochen dauern, da sich der Verein bei der Suche die nötige Zeit nimmt. Ein Datum, bis dahin ein Nachfolger unbedingt da sein muss, gibt es aber nicht.

Bisher nur sehr marginal angeschnitten haben wir das Umfeld Ihres Vereins. Wie kommt Karsten Neitzel mit dem Kieler Fußballfan aus?
Ich habe viel Schönes erlebt, als während des Abstiegskampfes eine große Fangruppe mehrmals  zum Training erschien und uns Mut zugesprochen hat. Die zum Ausdruck brachte, dass sie hinter uns steht. Dass sie nicht absteigen will, aber darum weiß, dass es die Mannschaft gleichermaßen auch nicht möchte. Das war grandios. Das hat motiviert.

Es gibt bestimmt auch eine Kehrseite der Medaille.
Die gibt es. Ich habe kein Problem damit, wenn sich jemand kritisch gegenüber mir beziehungsweise uns äußert. Es muss aber offen sein. Dann kann man darüber reden, dann kann mich jemand auch als „Blinder“ bezeichnen. Das steht ja jedem zu. Was für mich gar nicht geht, ist das versteckte Gebrabbel. Wenn man an Fans vorbei läuft und diese dir Wortfetzen hinterherwerfen.

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Was Sie ansprechen kann sicherlich jeder Trainer sagen. Eigentlich haben Sie es doch mit Kiel in puncto Fans, Boulevard und Aufsichtsrat sehr gut erwischt.
Ohne Frage, das Medienaufkommen ist noch sehr überschaubar, der Verein arbeitet in seiner Gesamtheit unwahrscheinlich konstruktiv zusammen und auch die Fans fallen fast durchweg positiv auf.

Muss man sich mittlerweile bei der Vereinswahl mehr das mediale Umfeld, den Aufsichtsrat und die Fans konzentrieren, als auf die künftige Mannschaft?
Wie gesagt, in Kiel hat man Bedingungen, die im Vergleich zu anderen Klubs absolut lobenswert sind. Generell würde ich dem insoweit zustimmen, dass man schon im Blick haben muss, wie die Strukturen sind und wer was zu sagen hat. Das ist wichtig und ich glaube auch, dass man da mittlerweile genau hinschauen muss.

Herr Neitzel, wir gehen in die Schlussfrage. Was sind Ihre Ziele? Möglichst schnell zurück in die 2. Liga, oder mit der KSV Holstein langfristig etwas entstehen lassen.
Was gibt es schöneres, als mit einer Mannschaft aufzusteigen? Deswegen bin ich hier. Solange ich einen Vertrag besitze, werde ich diese Aufgabe erfüllen und im Erfolgsfall gerne darüber hinaus. Eine andere Option spielt für mich keine Rolle. Wenn, dann richtig und mit voller Überzeugung. Das haben auch die Spieler verdient. Diese sind so sensibel, dass sie genau wahrnehmen, wenn jemand mit dem Herzen und dem Kopf schon woanders ist.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.