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Schlaflos wegen Seattle

Na, wer hat gestern Abend das Riesenmatch zwischen Green Bay und Seattle gesehen? Auf jeden Fall wurde es nicht nur in Seattle, sondern auch in Rostock emotional.

Ich habe eine große Klappe, bin hochnäsig und tendiere zur bahnbrechenden Arroganz, wenn es um Football geht. Der Trashtalk, das provozierende Proletengehabe vor einem Spiel, ist mir alles andere als fremd.

Am Sonntagabend, ich schätze es war so gegen 23 Uhr, tippte ich eine kurze Whatsapp-Nachricht, sie ist an meinen Bruder adressiert. Ich gratulierte ihm dabei, ohne die typischen Worte einer Gratulation zu verwenden. Ich gestehe meine Niederlage – also die Niederlage meines Teams – indirekt ein, und fahre meine bekannte Appeasement-Taktik. Beschwichtigen, Hohn und Spott der Anderen  bereits im voraus abschwächen, in dem ich den einsichtigen Verlierer gebe. So mache ich es seit Jahren bei Menschen, die mir viel bedeuten und die ich deshalb im Verlierer-Frust nicht anblaffen möchte.

Und mein Bruder, so dachte ich irgendwann abends, hatte den Sieg der Packers auch verdient. Schließlich hatten die Seahawks seine Lieblingsmannschaft zweimal  vernichtend geschlagen, seinen Lieblingsspieler, den Quarterback von San Francisco, regelrecht desavouiert.

Nun war ich  trotz des gekünstelten Altruismus‘ natürlich traurig. Ich mag die Seattle Seahawks seit Jahren. Ich verbinde mit ihnen mein erstes Footballspiel, das ich im Fernsehen sah. Es war ein Februarsonntag im Jahr 2006, und ich brauchte Ablenkung. Es hatte die Zeugnisse gegeben, und die Fünf in Mathe erwies sich als Stimmungskiller für die eigenen vier Wände. Da der Fernseher überraschenderweise noch im Zimmer stand, er nicht aus disziplinarischen Gründen eingezogen wurde, blieben mir  wenigstens der Superbowl und eine Niederlage der Seahawks zu später Stunde.

Ich war damals für Seattle, weil sie blaue Trikots trugen. Das erinnerte mich, ebenso wie das SEA in Seattle, an meinen Lieblingsfußballverein.

Vor ein paar Jahren wurde diese kurze Liebe neu entfacht. Ich las damals viel über die Stadt,  dem sozialliberalen Charakter des Bundesstaates Washington, hörte dazu Nirvana und Pearl Jam.

Ich informierte mich über den charismatischen Trainer, über ein Team voller Spieler, das gerade dabei war, aus kleinen Karrierechancen und vermeintlich geringem Talent einen Titelfavoriten zu formen. Ein Quarterback, der damals von fast allen übersehen wurde, weil die Experten ihn mit 1,80 für zu klein erachteten, und der nun die Liga verzückte.

Gut eineinhalb Jahre nachdem ich mit den Seahawks wieder angebandelt hatte, holten sie den Titel. Es war ein großartiger Abend, ein tolles Erlebnis. Ich war damals der einzige Seahawk-Fan bei unserem Superbowlabend, ein paar der anderen Footballfreunde hatten sich sogar extra orange T-Shirts angezogen. Und sie sahen, wie die Orangen aus Denver mit 8:43 verloren.

Nun spielte gestern alles gegen die Hawks. Seattle war lange so erbärmlich, dass ich sie gar nicht wiedererkannte. Ich hatte sie nie so schlecht gesehen, und irgendwann schloss ich mit der diesjährigen Finalteilnahme ab. Ich widmete mich sogar einer Gauloises auf dem Balkon, während das Spiel noch lief. Das mache ich eigentlich nie. Also rauchen und mich während eines wichtigen Spiels einer anderen Sache widmen.

Mir tat die Niederlage, als welche ich das Spiel bereits zur Pause und in den Minuten danach abgetan hatte, ziemlich weh. Verlieren? Okay. Prügel beziehen, wie viele andere zuvor auf der entgegengesetzten Seite? Okay, maleins ist das ja alles in Ordnung. Aber durch ein persönliches Desaster von Sympathieträger-Quarterback Russell Wilson untergehen? Niemals.

Wilson ist der erste Lieblingsspieler, den ich seit langem überhaupt habe. Seine Karriere, sein Kampf gegen Widrigkeiten. Seine philanthropische Ader, die er bei wöchentlichen Besuchen in einer Kinderklinik immer wieder unter Beweis stellt, sein Einsatz für soziale Themen. Als das machte ihn mir für mich sympathisch. Der junge Kerl hatte diesen Abend also nicht verdient. Hatte diesen Albtraum nicht verdient, den er sich durch haarsträubende Fehler im Alleingang zusammengeschrieben hatte.

Nun schreibt der US-Sport manchmal schlechte Hollywoodgeschichten. Selten sind  tolle Storys dabei, und manchmal sogar Drehbücher, die niemals verfilmt werden würden, weil die Schmonzette die Grenzen des guten Geschmacks auch für amerikanische Superlativverhältnisse weit übersteigen würde.

Seattle, etwa zwei Minuten vor Schluss mit 7 zu 19 im Rückstand, was etwas weniger als zwei Touchdowns entspricht, gelingt mit Verve und reichlich Glück tatsächlich noch die Führung, die wenig später per Field-Goal von Green Bay ausgeglichen wird. Verlängerung. Glück beim Münzwurf, der erste Schuss, der allerdings sitzen muss, gehört den Blauen. Er gehört den Seahawks.

Und dieser erste Schuss sitzt. Wilson wirft, Kearse, bis dato der zweite große Depp, weil er schlicht und ergreifend miserabel gespielt hat, fängt in der Endzone. Touchdown. Sieg. Schluss. Finale erreicht.

Es ist ein Wunder. Das schreiben Journalisten, Blogger und andere Fans schon Minuten nach dem Spielende. Man registriert es aber nur langsam selber. Es ist ein Stück Sportgeschichte. Psychopharmaka für die geplagte Sportseele.

Russell Wilson, der Held, weint nach Spielende in den Interviews auf dem Rasen Tränen der Überwältigung. Er wird übermannt von seinen Gefühlen, und bedankt sich bei Mitspielern dafür, dass sie ihn nicht aufgegeben haben.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Auch ich vergieße in diesem Moment – dass erste Mal seit dem WM-Halbfinale 2006 – mal wieder ein paar Tränen für ein Sportereignis. Es folgt ein Adrenalin-Rausch. Englischsprachige Websites, Twitter und Facebookfeeds. Videos und GIFs. Alles wird abgegrast, und ich bin erst von diesem Moment und seinen Nachwirkungen gesättigt, als das zweite Spiel längst entschieden ist.

Ich schreibe deshalb eine Nachricht an meinen Cousin. Auch seine Mannschaft ist soeben ins Finale eingezogen.

Wir sehen uns im Finale. Möge der Trashtalk beginnen.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.