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Hansa Rostock – Kitt der Generationen

Uwe (51), Sven (44), Phillip (25) und Max (23) sind Hansa-Fans. Sie leben derzeit in Schwerin, Hamburg, Halle und Dresden. Dennoch besitzen sie über Leidenschaft zu Hansa eine direkte Verbindung. In vier Monaten könnte ihr Verein jedoch erledigt sein, wirtschaftlich wie sportlich. Wir sprachen mit vier Fans und erzählen ihre Geschichten.


Sven Jähnichens Stimmung schwankt zwischen unsicher und traurig. Dass es ihm schon einmal besser gegangen sein muss, als an diesem regnerisch-versuppten Mittwochvormittag, kann man sich leicht denken. Er spricht es offen an, versucht gar nicht erst, seine Unsicherheit zu verbergen: „Das mit Hansa nimmt mich ganz schön mit, keine Frage. Das alles belastet mich sehr.“

Jähnichen, ein Ur-Güstrower, der zurzeit in Hamburg lebt und nach einem Arbeitsunfall einer Umschulung nachgeht, ist ein Anhänger aus der älteren Garde. Sein erstes Spiel sah er am 30. November 1980 gegen Stahl Riesa, sein Vater hatte ihn an diesem Samstag das erste Mal ins Ostseestadion mitgenommen. Der Neunjährige wird damals Zeuge eines umjubelten 6:2-Heimsieges, und seit jenem Herbstnachmittag ist der langjährige Fassadenmonteur eng mit dem FC Hansa verwurzelt. Nun geht es ins 35. gemeinsame Jahr. Ob es das letzte sein wird? Betretendes Schweigen.

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Die anfängliche Unsicherheit lichtet sich, wenn er beginnt, in den Erinnerungen der frühen 90er Jahre zu kramen. Jähnichen schildert dann von dahinschmelzenden Grenzen und vom Abenteuer Bundesliga in den neuendeckten Stadien, von der neuen Weite der Autobahn- und Zugfahrten.

Der 44-Jährige hat die goldene Zeit des FC Hansa miterlebt. Er nahm in dieser Zeit fast jedes Auswärtsspiel wahr, sah Siege in Dortmund und München, feierte Klassenerhalts-Wunder und kleine Sensationen. Wenn er heute, längst im Drittligaalltag angekommen, gefragt wird, was er am meisten vermisse, dann sagt der Exil-Hamburger jedoch nicht das Wort Bundesliga. Er überlegt, sammelt sich und holt aus:

„Der Kontakt zwischen Mannschaft und uns Fans war vor ein paar Jahren noch enger und besser. Viel besser“, so Jähnichen.

Spieler, die damals noch als Bundesligastars bezeichnet werden konnten, nahmen sich mehr Zeit, unterhielten sich teils ausführlich mit den Zaungästen. Im Sommertrainingslager 2002, abgehalten im portugiesischen Faro an der Algarveküste, gab es nach den Morgenläufen sogar eine Fanstunde für die mitgereisten Fans, die damals noch mühelos in einem Reisebus gepasst hätten.

An einem Spieler erinnert sich Jähnichen besonders gern. Es ist einer der vielen Schweden, und zwar der Erste, der von ihnen überhaupt nach Rostock kam. „Peter Wibran war ein großartiger Kerl. Nicht nur auf dem Platz, sondern vor allem abseits des Rasens. Er war so ein guter Typ, der hat die Mannschaft alleine dadurch besser gemacht“, führt er ausführlich aus. Noch heute hat Jähnichen Wibrans Nummer eingespeichert, vor ein paar Jahren zog sogar ein eigens gecharterter Bus los, um die Rostocker Ikone bei seinem schwedischen Heimatverein zu besuchen. „So einer wie er fehlt uns heute“, lautet die trockene Bilanz des erfahrenen Supporters.

Jähnichen, von Freunden und anderen Fans „Eisern“ genannt, hat wieder mit der Kraft in seiner Stimme zu kämpfen, wenn er in die sportliche Gegenwart vorschreitet. Mit leiser Wut füllt sie sich, wenn er sich an das Kapitel Rydlewicz als Manager erinnert, den er als Spieler jahrelang bewundert hatte. Trüber wird sie, als er die letzten Jahre in kurzen Sätzen verpackt. Sie zu einer eigenen Chronik bündelt.

Geändert hat sich den letzten Jahren nämlich nicht nur die Ligazugehörigkeit seines Lieblingsteams, sondern auch sein Platz im Stadion. Vom Pulk auf der Südtribüne, in dem er am liebsten stand und seine Hymnen schmetterte, musste er sich verletzungsbeding zurückziehen. Er könne nicht mehr alles geben, und die Jugend müsse ja auch einmal ran, fasst er dann, dass erste Mal in diesem ausführlichen Gespräch, mit lächelnder Miene zusammen.

Heute beobachtet der 44-Jährige das Geschehen vom Block 27 A aus. Im Grunde gehört die Kurve noch zum Hintertor-Bereich, viele der „Alten“ nehmen dort ihre Plätze ein und haben alles im Blick. Das Spiel und das Treiben der Ultras

Nicht allzu weit von Jähnichen entfernt sitzt Uwe Busch. Ein anderer Schlag von einem Mann, wie bereits seine Freizeichenmusik auf dem Mobiltelefon ankündigt. Dort empfängt das vollkehlig vorgetragene „I shipping up to Boston“ der Dropkick Murphys den wartenden Gesprächspartner mit irischer Musikfolklore.

Busch bringt dabei eine überraschend kurze Fan-Vita mit, den angesprochenen Wibran hat er nur selten live in Aktion gesehen. Der 51-Jährige, der in den Achtzigern von Altenburg nach Mecklenburg siedelte, fand erst deutlich zeitversetzt einen intimen Zugang zum FC Hansa. Die ersten Spiele besuche er spät in den Neunzigern, die erste Dauerkarte folgte erst ein paar Jahre später zur Spielzeit 2002/03. Seitdem geht es für ihn nur noch in eine Richtung: „Es mag komisch klingen, aber ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Jahr näher an den Verein heranrücke. Ich bin ja auch erst vor ein paar Jahren dem Verein beigetreten“, so Busch.

Als „akzeptiertes Mitglied“ der Rostocker „Ropiraten“, einem Zusammenschluss von Rostocker Fußballfans, die gerne ihre Liebe zu Punkrock und schottischem Whisky frönen, ist er in Mecklenburg-Vorpommern endgültig angekommen. „Ich gebe mir alle Mühe, um mich hier vernünftig zu assimilieren“, scherzt der Schweriner, der sich anstrengt, im klaren Hochdeutsch zu sprechen und seinen Akzent zu vermeiden. In schriftlicher Form hat er das längst perfektioniert.

Für ein Fanportal schreibt der gebürtige Thüringer Berichte über Spiele und Auswärtsfahrten, auf seinem Blog „Hanseator“ reichert er diese Geschichten mit Musik- und Reiserezeptionen an.

Wenn man Busch heute zuhört, seinen Berichten aufmerksam folgt, dann könnte man daraus nicht schließen, wie arg es um seinen Verein, dem 19. der Drittliga-Tabelle, wirklich steht. Demut sucht man in seinen Ausführungen vergeblich, auch als eine der schönsten Geschichten der letzten Jahre aus dem Gedächtnis hervorgeholt wird. „Der 2013 A-Jugend-Trip nach München, als wir die Bayern schlugen. Und als uns eine kulante Polizeisteife einen „Wildpinkelrabatt“ gestattete. Drei wurden erwischt, für einen mussten wir zahlen“, berichtet Busch noch heute, weit weg von der damaligen Aufbruchsstimmung, euphorisch.

Ob er sich keine Sorgen mache? „Positiv denken“, lautet die prägnante Antwort des passionierten Musikfans, der sich extra VIP-Karten für das große Benefizspiel im März besorgt hat, um vielleicht ein Gespräch mit Musik-Idol Campino abzustauben.

Wäre Busch ein paar Jahre jünger oder Max Schaller ein bisschen älter, die beiden würden wahrscheinlich kaum aneinander vorbeikommen. Schaller ist gebürtiger Schweriner, studierte ein paar Jahre in Rostock Chemie, bevor es ihn zum Ende des Jahres 2014 nach Dresden zum Masterstudiengang zog. In seiner Freizeit engagiert sich er sich politisch für soziale Ziele, die auch in vielen Liedern von Busch‘ Lieblingsbands thematisiert werden.

Zudem besitzt auch Schaller Wurzeln, die tief in den mitteldeutschen Raum hineinreichen. Sein Vater kommt aus Magdeburg, während des Studiums in Thüringen bandelt dieser mit Rot-Weiß Erfurt an. „Vielleicht auch, weil die Wurst dort einfach besser schmeckt“, sagt der junge Mann mit dezentem Witz.

Eigentlich, so meint der Neu-Dresdner, stand ihm trotz seiner Jugend in Schwerin kein Fan-Leben als Hansa-Anhänger bevor. Der 23-Jährige trat anders als viele seiner Klassenkameraden keiner Jugendmannschaft bei, und auch in der Freizeit bleibt wenig Raum für den Fußball. Stattdessen steigt er bereits mit sechs Jahren auf ein Segelboot und betreibt dieses Hobby bis zu seinem 20. Lebensjahr als Leistungssport. Wenn es Schaller in dieser Zeit doch mal ins Stadion schaffte, fuhr er lieber nach Bremern und ging ins Weserstadion. Erst sein Umzug nach Rostock intensiviert sein Verhältnis zum FC Hansa. Durch neue Freunde kommt der junge Mann verstärkt mit der Kogge in Verbindung, bald darauf steht er das erste Mal auf der Süd. „Ich mag Werder noch immer, aber Hansa ist meine Nummer eins geworden“, erklärt er in diesem Zusammenhang.

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Schaller, der im Verlauf seiner Rostocker Zeit mit anderen Hansa-Stammgästen eine Wohngemeinschaft gebildet hatte, gibt sich deshalb auch nachdenklich, wenn es um seinen Umzug nach Sachsen geht: Es ist schon komisch, jeden Tag das Dynamo-Stadion zu passieren und so weit von Rostock entfernt zu sein. Ich versuche zwar Spiele zu sehen, aber es klappt viel zu selten.“ Mitglied ist Schaller trotz der großen Distanz dennoch geworden. Zum neuen Jahr füllte er den Bogen aus, will mit dem Verein in seiner schwersten Phase zusammenrücken. Auch von Dresden aus.

Das Gefühl, am Stadion eines direkten Rivalen vorbeizufahren, kommt auch Philipp Gramstadt bekannt vor. Der Lehramtsstudent wohnt in Halle. Eine Stadt, in der die Farben blau und weiß besonders schlecht ankommen. Vordergründig nicht einmal wegen des FC Hansa, sondern viel mehr aufgrund des Lokalkonkurrenten aus Magdeburg. „In Kneipen war es immer witzig zu sehen, wie die Einheimischen geschaut haben, wenn ich meinen neutralen blau-weißen Schal ablegte, und sie mich dann musterten, um zu sehen, welches Logo sich unter meiner Jacke verbirgt“, sagt Gramstadt, wenn es um die Lage eines Hansa-Fans an der Saale geht.

Der 25-Jährige besitzt im Vergleich zum zwei Jahre jüngeren Pendant aus Dresden einen anderen Werdegang was die Beziehung zum Rostocker Klub anbelangt. Früh wird der Wismarer Mitglied in einem Fanclub, oft geht es deshalb in der Gemeinschaft der Blue Vikings zu den Bundesligabegegnungen. Viele Partien verfolgt der Student in den Stehblocks auf der Nordseite, auch in der Familie spielt der Verein eine größere Rolle, denn der Vater ist merklich traurig gestimmt, wenn Hansa verliert. Im Gegensatz zu Schaller besitzt der Neu-Hallenser seit seiner Geburt blau-weiß-rote Venen.

Obwohl sich beide Anhänger des jüngeren Semesters auf den Tribünen der Rostocker Arena verpassten, hat Hansa eine Freundschaft zwischen ihnen geschmiedet. Beim letzten Hansa-Auftritt in Halle gastiert eine Gruppe Auswärtsfahrer in der Hallenser Studentenwohnung, darunter ist ein anfangs noch unbekanntes Gesicht – Max Schaller.

„Wenn man inmitten von Halle-Fans das Spiel schaut, in der 90. das 3:3 erzielt, dann aber noch verliert, schweißt das einfach zusammen. Seitdem sind wir sehr gute Kumpels“, bekennt Gramstadt grinsend.

Dabei unterscheidet sich der angehende Pädagoge durchaus von seinem neugewonnenen Freund. Er wirkt fokussierter, noch etwas versessener, was den FC Hansa angeht. Er bestätigt den Eindruck von selbst. „Wenn Hansa absteigt? Oder sich der Verein auflöst? Ich will es mir nicht vorstellen. Ich kann mir das auch gar nicht ausmalen.“

Könnte Sven Jähnichen, der nachdenkliche Mann mit dem wachen Blick, diese Worte mithören, dann würde er sich wahrscheinliche bestätigt fühlen und denken, das Gleiche hätte er an dieser Stelle auch gesagt.

Zwischen dem Hamburger, aus dem nach bestandener Prüfung alsbald wieder ein Güstrower wird, und dem Lehramtsstudenten liegen vermeintlich Welten. Vom Altersunterschied bis zur regionalen Diskrepanz, von den unterschiedlichen Plätzen im Stadion ganz abgesehen. Der FC Hansa ist ein Kitt zwischen diesen Menschen, die in Gesprächen viele Gemeinsamkeiten offenbarten, sich im wahren Leben aber noch nie begegnet sind. Vielleicht auch nicht mehr begegnen werden.

Jähnichen, der am längsten sprach und die meisten Anekdoten und Geschichten parat hatte, macht auch deshalb seinen Standpunkt noch einmal mit Nachdruck deutlich: „Hansa“, holt er Luft, bevor er an die aktuelle Mannschaft appelliert „bedeutet unserem Bundesland verdammt viel. Der Klub bringt die Menschen zusammen, er gehört einfach zum Leben in Mecklenburg-Vorpommern. Gerade deshalb müssen die Spieler alles für den Klassenerhalt geben.“

Die Storys, die beschriebenen Wege zum jeweiligen Fan-Dasein des kleinen Quartetts sprechen Bände. Sie belegen Aussagen dieser Art von alleine. Vom ehemaligen Lok Leipzig-Fan, der auch durch den FC Hansa heimisch geworden ist, bis zu der neuen Männerfreundschaft, die aus einem Hansa-Auswärtstrip quellte.

Jähnichen, der den FC Hansa in seiner Wertigkeit direkt nach seiner Familie und neben seinen Freunden angeordnet hatte, stellt zum Abschluss eine Frage, die er nicht beantworten kann. Die er sich eigentlich gar nicht stellen wollte, wie er beteuert. Auch die Mitstreiter aus Schwerin, Dresden und Halle tun sich schwer damit, etwas Gehaltsvolles zu erwidern.

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Dabei war die Frage eine denkbar Einfache:

„Was sollen wir, wenn Hansa der Klassenerhalt misslingt, nur am Samstag-Nachmittag machen?“

 

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Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.