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Der HSV braucht seinen Relaunch

Auf einmal wünscht man dem HSV nicht mehr den Abstieg, man gönnt ihn die Erlösung. In der 2. Liga könnte der Verein wieder das lernen, was er vergessen hat: Gewinnen und Träumen.

Foto: imago sportfotodienst

Kennst du Shaquem Griffin? Du solltest ihn kennen, zumindest wenn du mit dem HSV verbunden bist. Griffin, 22 Jahre alt, wird sehr wahrscheinlich der erste Sportler sein, der es mit nur einer Hand in die NFL schafft. In die NFL, mit nur einer Hand! Wahnsinn. Im Sport ist alles möglich. Also auch, dass der HSV mal wieder gewinnt.

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Aber Schluss mit der Häme. Am vergangenen Samstag konnte der HSV einem leidtun. Gegen Mainz 05 boten die Spieler mit den roten Hosen und dem schmalen Selbstvertrauen ein ordentliches Spiel. Sie schossen aus allen Lagen, trafen zweimal die Latte, verschossen einen Elfmeter. Die Hamburger taten viel, doch schafften sie wenig. Das war dieses Mal nicht nur Unvermögen. Das war auch Pech. Und das ist für die Hamburger die schlechteste Nachricht.

Wie ein Gaffer, der sich berauschen will

Seit den Relegationsspielen gegen Greuther Fürth und dem Karlsruher SC schaue ich viele HSV-Spiele. Als Fußballromantiker, der will, dass die Guten gewinnen und die Bösen verlieren, habe ich großes Interesse an den Spielen der Hamburger. Manchmal fühle ich mich wie ein Gaffer, der sich an einem Niedergang berauschen will.

Am Wochenende verflog aber die Schadenfreude. Schuld daran war die Szene, die dem HSV womöglich den Klassenerhalt kosten wird: Das Abseitstor von Filip Kostic, das erst gegeben und dann widerrufen wurde.

Typisch wäre es gewesen

In der Vergangenheit lief es beim HSV oft nach einem Schema: 1. Es folgt eine brachiale Backpfeife, jeder scheint die Mannschaft aufzugeben. 2. Glück, ob durch Latte, Pfosten, Fehler des Gegners oder eines wirren Schiri, haucht den HSV neues Leben ein. 3. Aufgestanden vom Totenbett entdecken die Spieler ihre Courage wieder.

So war es in den Relegationsspielen und letztes Jahr gegen Wolfsburg. Dieses Jahr wäre es wieder so gelaufen. Gäbe es nicht den Videobeweis. Als Kostic´ nach toller Hackenvorarbeit den Ball ins Netz drosch, ein Stadion eskalierte und Spieler umherhüpften wie glückliche Kinder, da war es dieser Totenbettmoment. Ein Abseitstor, übersehen von Schiedsrichter. Typisch wäre es gewesen, dieses Glück. Der Anstoß zur alljährlichen HSV-Courage. Dann kam der Videoschiedsrichter. Die Hoffnungslosigkeit kroch zurück in die Schultern der Spieler.

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Seit ein paar Monaten lebe ich in Schwerin. Wie weit die Arme des HSV reichen, sieht man auch hier in der schönsten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns . Manch Rautenfahne flattert stoisch im Wind. Mein Lieblingskneipier ist HSV-Fan und zapft samstags meist mit trüber Miene. Mit einem Dauerkarteninhaber des HSVs  habe ich neulich Brühkaffee getrunken. „Weißt du“, sagte er: „Vielleicht ist es gut, wenn wir absteigen. Es wird schmerzen, ja, aber dann ist es endlich vorbei.“

Vorbei wäre dann vieles, die Bundesligazugehörigkeit zum Beispiel. Aber darum ging es diesem Fan gar nicht. Es ging um ein halbes Fußballjahrzehnt seelische Dauerbelastung. Viele Fans, das liest man, sind resigniert und geplättet von der Angst um ihren Verein. Von Juni bis September wird durchgeatmet, Mut geschöpft. Der Rest ist Qual. Wer ein bisschen Empathie besitzt, spürt schnell: Häme sind da nicht mehr angebracht.

Was man dem HSV wünscht, und das ist das Seltsame, ist nach wie vor der Abstieg. Wenn auch aus edleren Motiven.

Fußball ist ein Mentalitätssport

Fußball, das hat mir mal ein Profitrainer gesagt, ist Mentalität. Und diese kann von blamabel bis herausragend alles sein. Die Mentalität einer Mannschaft bestimmt, mit welchem Selbstverständnis sie auftritt. Sie spielt mit Energie oder  Lethargie, voller Mut oder mit Angst.

Beim HSV sitzt eine Stimmung seit Jahren tief in den Fugen des Vereins: Mangelndes Selbstvertrauen und chronische Angst vor dem Versagen. Neue Trainer entfachen nur kurzzeitig ein Strohfeuer. Es verglimmt noch schneller als es aufgelodert war.

Man könnte viele Vergleiche dafür finden. Der HSV ist zum Beispiel eine Marke, die für nichts Gutes mehr steht, sondern nur noch für ein irres Zusammenwirken von Unfähigkeit und Glück. Eine der positivsten Sportmarken des Landes ist zu einer Lächerlichkeit zusammengeschrumpft. Das denken viele, das sagen viele. Im Werbesprech müsste man sagen: Der HSV und seine Marke brauchen einen Relaunch.

In der 2. Liga gewinnt man Selbstvertrauen

Nun ist der Abstieg zwar mehr so etwas wie ein Resetknopf, aber doch auch dieser kann wirksam sein. Der 1.FC Köln hatte einst neue Kraft in der 2. Liga getankt, zuletzt Stuttgart und Hannover. In der zweiten Liga gewinnt man wieder Spiele. Schießt Tore. Lädt die waidwunde Psyche mit Erfolgserlebnissen auf. Ein Jahr zweite Liga entkernt nicht nur den Kader, sondern polt im Idealfall die Mentalität um. Aus Verlierern werden Sieger – wenn die Verlierer einiges richtigmachen.

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Sandhausen zum Beispiel, ein gut geführter Verein, ist für die Hamburger Fans zu einem Schreckengespenst geworden. Dort wollen sie nicht antreten. Die Bühne erscheint mickrig klein.

Dabei bietet sie genau das, was der HSV braucht: Gegner, die sie schlagen können, auch an weniger guten Tagen. Ein 2:1 gegen Heidenheim ist tausendmal wertvoller als das x-te 0:4 gegen die Bayern oder Dortmund. Die zweite Liga könnte zu einer Kur für den HSV werden. Womöglich erlernt der Volkspark wieder das Gewinnen und damit das Träumen.

Und wie wichtig ein Traum ist für Leistung und Leidenschaft, das sahen wir am vergangenen Wochenende. Bei Shaquem Griffin, der beim Talentetraining die schnellste Zeit eines Linebackers seit 15 Jahren lief. Mit einer Hand.

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Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.