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Ole Hengelbrock: Die Pflicht des Herzens

Als eine „Pflicht des Herzens“ beschreibt Norderstedts Ex-Kicker Ole Hengelbrock seine Zeit im Libanon. Im Raketenhagel arbeitet der 25-Jährige derzeit beim „humedica Projekt“ und hilft syrischen Flüchtlingen. Im herzbewegenden Bericht schreibt er, wie Fußball die Welt verbindet.

 

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Wieviel Herz man haben kann, wieviel guten Gedanken man in sich tragen kann und wieviel Liebe ein Mensch in sich hat, beweist Ex-Norderstedter Ole Hengelbrock in seinem feinfühligen, bewegenden und sensationell geschriebenen Bericht über seine Zeit im Libanon.

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von Ole Hengelbrock

Noch vor drei Wochen fuhr ich jeden Abend in die Ochsenzoller Straße, parkte an der Hausnummer 58, hörte die letzten Zeilen des Liedes im Auto zu Ende. Setzte dann Opas Mütze auf, gab meinem Hund Klabauter pfeifend das Kommando zum Aussteigen und ging knapp 29 Schritte zum Kabineneingang, vorbei am verhassten Kunstrasenplatz.

Nun sitze ich auf dem Dach eines Hauses in der libanesischen Stadt Zahlé und blicke auf das Beka-Tal. Grund dafür war ein Anruf von „humedica“. Die Nichtregierungsorganisation entsendet medizinische Fachkräfte in die Not- und Krisengebiete dieser Welt. Bereits im September 2012 startete humedica ein Projekt im Libanon, um syrische Flüchtlinge medizinisch zu versorgen.

Nun bin ich Teil dieses Einsatzes. Als Assistenz-Koordinator fahre ich mit dem medizinischen Team in die Flüchtlingscamps. Es sind unzählige ins Beka-Tal gewürfelte Zeltbauten. Nach Angaben des UNHCR (Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, (englisch United Nations High Commissioner for Human Rights) sind bis zu 1.405.000 Millionen Menschen aus Syrien geflohen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte über Flucht, Angst und Krieg.

Vor diesem Einsatz war ich ein Junge mittleren Alters, schwach behaart, Student der Sozialen Arbeit und des Fußballspielens nur grätschend mächtig – und Syrien? Syrien war für mich lediglich ein Land im Nahen Osten, das versucht einen Diktator zu stürzen; eine gewaltvolle Eskalation des arabischen Frühlings; ein Trümmerfeld, gezeichnet durch YouTube-Videos. Auf den Hamburger Sportplätzen konnte ich die Geschehnisse in Syrien nicht be-greifen. In schwarzen Eisenstollen war es mir nur als ein Synonym bekannt, das die Medien gebrauchten, um von Krieg zu berichten.

Die untergehende Sonne wirft ihre letzten Strahlen auf die gegenüberliegende Gebirgskette. Hinter diesen Bergen liegt es. Das Land, das so weit weg scheint. Der Krieg, den ich mir nicht vorstellen kann. Hier ist es ein Spiel auf Leben und Tod. Jede Neunzig Minuten können endgültige sein, egal ob der Lappen in Schwarz pfeift oder nicht.

Die Flüchtlingscamps liegen außerhalb der Stadt, meist an Kartoffeläckern oder Salatfeldern. Die Möglichkeit Arbeit zu finden, ist dort für die Flüchtlinge am Größten. Wenn die Straßen ruppiger werden nähert man sich ihnen. Abwechselnd fahren wir die vielen Camps an, sodass jedes im zwei bis drei Wochenrhythmus besucht werden kann. Im Rückspiegel ist der aufgewirbelte Straßenstaub zu sehen. Von oben brennt die Sonne. Im Vorbeifahren hört man kindliche „Salam“ Rufe und entdeckt immer wieder das runde Spielgerät, das ich so liebe. Jedes Camp ist eine in sich geschlossene Gruppierung von 30 bis zu 100 Familien. Die Eindrücke die auf mich wirken sind kontrovers. Auf der einen Seite addieren sich Satellitenschüsseln analog der Familienanzahl und versprechen eine geregelte Stromversorgung. Auf der anderen Seite zeugen die Fäkalien und der Müll im angrenzenden Bachlauf von Destruktivität. Auch die Menschen verhalten sich unterschiedlich. Während manche unser Kommen in Ruhe und beobachtend abwarten, strömen andere wild auf uns zu und treffen aus ihrem individuellen Tenor eine gemeinsame übertönende Tonlage; die arabische Vuvuzela. In den Camps wird uns jeweils ein Zelt zur Verfügung gestellt. In diesem praktizieren die Mediziner. Wenn alles aufgebaut ist und meine Kollegen mit der medizinischen Versorgung beginnen, nehme ich mir Zeit, den Menschen vor dem Zelt zu begegnen.

Mit den Menschen kommt man schnell in Kontakt. Vor allem die Neugier der Kinder spannt mich in ihre Mitte. Ganz unbedarft spüre ich Fingerspitzen auf Armen und Beinen; Augen richten sich auf meinen Bildausweis. Auf den Versuch arabisch zu sprechen, antworten die Menschen mit Begeisterung: „وما هو اسمك اسمي اولي“. Mein Name ist Ole, wie heißt du?

Lächelnde Menschen, mit wunderschönen großen dunklen Augen, stellen sich mir vor. Sie lehren mich die arabischen Begriffe für Auge, Mund, Nase und Ohr, für Liebe und die Zahlen bis zehn. Die Kinder warten gespannt, bis ich endlich den letzten Finger abzähle. Dann folgt ein stimmgewaltiges „one, two three…“. Wir klatschen, in diesem Moment bleibt kein Wort hinzuzufügen.

Nach dem anfänglichen Beschnuppern gehe ich im Camp umher und schaue mir das alltägliche Leben genauer an. Die Zelte haben ein stabiles Holzgerüst. Manche Innenwände sind gar mit Teppichen verziert. Auf dem Boden liegen drei, vier Matratzen und manchmal ist auch ein Ofen zu entdecken. Oft werde ich hereingebeten. Im Schneidersitz versuche ich bei ziemlich starkem Kaffee eine gute Figur zu machen. Als belächelnde Kommentare über meine körperliche Sperrigkeit auf mich niederprasseln, muss ich an meine Mutter Doris denken: „Ihr dehnt euch viel zu wenig. Wenn Turnen einfach wäre, hieß es Fußball!“

Viele arabische Worte fallen mir auch nach knapp drei Wochen nicht ein. Aber wozu braucht man Worte, wenn alle Welt bei einem Namen die Arme in die Luft reißt und vom Zirkus träumt?! „Meeeeessi“. Egal, ob Großmama oder Lausbub, der argentinische Flo ist generationsübergreifend übergesprungen. Spätestens jetzt hole ich einen Ball aus meinem Rucksack, worauf tosender Applaus folgt. Der würde die ehrwürdige Adolf-Jäger-Kampfbahn zusammenkrachen lassen. Im Slalom um die Zelte, bis eine freie Fläche in Sicht ist. Nach 10 Minuten Gekicke fühle ich mich wie in der Sommervorbereitung unter meinem alten Eintracht Coach Prohner (alias Naprohleon). Die ungezählten Wasserpfeifen tragen zum Gekeuche bei (ich konnte nie ablehnen). Ich entziehe mich dem kunter-grauen, ähhh dunkel-bunten Treiben und beobachte das Leben abseits des Geschehens.

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Aus der Ferne betrachtet zerbricht mein romantisches Bild des Zusammenlebens. Der Muff des Camps schwillt über, der Dreck vermag nicht fortgespült werden zu können und der Umgang untereinander wirkt auf mich verstörend. Durch meine pädagogische Profession und Reiseerfahrungen bin ich mir interkulturellen Differenzen in der Erziehung durchaus bewusst. Ein Bild, von Gewalt gezeichnet, passt jedoch in keinen meiner Bezugsrahmen: Ein älterer Mann fasst einen Jungen. Er mag etwas ausgefressen haben, denn neben lauthalsem Geschimpfe werden seine Ohren in der Tat langgezogen. Dann nimmt er ein Kabel und versetzt dem Jungen eine Handvoll unseliger Hiebe. Das Bild wird noch abtrünniger, als andere Kinder dazukommen und ganze Freude daran verspüren den Jungen mit Schlägen und Tritten zu schikanieren.

Folgende Bilder zeichnen sich ähnlich ab: Ein größerer Junge läuft durch die Kinderschar und verteilt mit einem Seil willkürlich Schläge. Mein Ball wird durch Schubsen, Schreien und Treten weitergereicht. Ein Dialog endet in einer Rangelei, in der der Schwächere auf’s Gesicht niedergeworfen wird. Die Revanche lässt nicht lange auf sich warten. Der Gefallene nimmt einen handgroßen Stein, läuft zu seinem Widersacher und droht zuzuschlagen. Dieses Bild erstickt meine Unbeteiligtheit. Als ich den Stein aus der Hand des Jungen nehme, berühre ich einen zitternden Arm; es ist ein todernstes Bild.

Aus meinen zwei Händen forme ich ein Herz. „Amore! Amore!“ – Die Kinder sammeln sich neugierig um mich. Keine Hand ist zu einer Faust geballt, kein Mundwinkel aus Wut verzerrt, kein Gedanke an Gewalt verschwendet. Dieses Bild ist eine Hommage an die zwischenmenschliche Begegnung. Ein Kodakmoment, in dem die Liebe zueinander als Grundsatz des Lebens verewigt wird. Danach folgt kunterbuntes Treiben. Sobald es sich zu einer gewaltvollen Auseinandersetzung potenziert, löst mein Blick die Situation auf – „Amore“ schallt aus mehreren Mündern.

Was bleibt hinzuzufügen? Bevor ich dem Bild jedoch Vertrauen schenken kann, fliegen wieder Steine. Eine Frau wirft gezielt nach manchen Kindern. Im Nachhinein erfahre ich, sie kamen aus einem benachbarten Flüchtlingscamp.

Ich setzte mich auf einen Stein und spiele mit den übrig gebliebenen Kindern. Sie verfolgen jede meiner Handlungen. Englische Wörter oder Klatschspiele lernen sie im Handumdrehen. Kinder beobachten ihre Umgebung. Sie saugen die Erfahrungen auf und projizieren sie auf ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten. Sie assimilieren sich nach den Sitten in denen sie leben. Werden Steine geworfen, so sieht ein Kind einen Stein nicht als Rohheit der Natur an, sondern als Ressource seine Absichten gewaltvoll durchbringen zu können. Ein gewaltvolles Umfeld sozialisiert Kinder Gewalt anzuwenden. Eine Verlustspirale der kindlichen Unschuld.

Als die Arbeit der Mediziner getan ist, steige ich ins Auto und blicke zurück auf das Camp. Die Kinder stehen mit großen Augen auf der Straße und rufen „Good Bye!“ Der aufgewirbelte Staub verzerrt das Bild. Ich winke noch einmal und mir wird klar: Destruktivität multipliziert sich. Das gegenwärtige Leben der Menschen ist eine Grenzsituation. Sie mussten aus ihrer Heimat fliehen, sahen ihre Nächsten unter Trümmern begraben, finden kaum Arbeit, gehen nicht zur Schule, leben auf engsten Raum zusammen in stetiger Unsicherheit was die nächsten neunzig Minuten bringen mögen. Das schürt Unmut, Konflikte, gar Gewalt. Das türmt sich auf zu einem Scheiterhaufen; möge kein Funke vom Krieg herfliegen!

Eine Kollegin lächelt mir zu: „Nicht, dass du noch deinen Liebsten vergisst“ und legt mir meinen Ball in den Schoß. Ich schließe die Augen und frage: Fußball, was ist das eigentlich? Die neuen Fußballarenen konnten mir nie den Bratwurstgeruch und den Biergeschmack des alten Millerntors oder der Bremer Brücke ersetzen. Ich zog die Wunden eines Grantplatzes denen eines Kunstrasens stets vor. Die Eleganz des weißen Balletts ging mir nie so ans Herz wie eine Grätsche von Roy Keane oder ein Tritt von Eric Cantona. Ich war nie ein guter Fußballer. All die Teppichbodenkunst beherrsche ich nicht (das habe ich auch nie behauptet). Aber ich bin ein guter Fußballspieler! Das ist etwas anderes; mehr wesentlich und viel wertschöpfender! Ich sehe Fußball nicht als Bühne, auf der man versucht sein Bestes zu zeigen. Sondern als Gelegenheit, sein Bestes zu geben. Die verdammten drei Punkte zählen hier nicht. Das Leben neben dem Feld ist das Essenzielle. Fußball ist ein Medium, um die Grundsätze des Lebens zu lernen: Fairness, Teamfähigkeit, der Lohn des Schweißes, Umgang mit Kritik, Bewältigung von Niederlagen, Selbstwertgefühl, Empathie, Hoffnung, Mut, Glaube, Blutherz, Tränen, Liebe …

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Ich öffne meine Augen. Die Schlaglöcher werden weniger. Die Sonnenstrahlen zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht und wärmen mich mit Gewissheit: Wenn Destruktivität sich zu Gewalt multiplizieren kann, dann kann sich auch Liebe vermehren. Wenn eine Stadt zerbombt wird, können dort auch wieder Blumen blühen. Wenn Kinder Gewalt lernen, können sie auch wieder Liebe leben. Das sind keine Regeln des höflichen Optimismus. Das sind die Grundsätze des Lebens.

Dieses Projekt von humedica dient nicht nur der medizinischen Versorgung der aus Syrien geflohenen Menschen. Dieser Einsatz ist eine Solidaritätsbekundung, eine Präsenz der Empathie, eine „Pflicht des Herzens“. Unser Aufenthalt im Libanon bezeugt ein Da-Sein für Menschen in Not. Letztlich zielt die alltägliche Arbeit im Sinne Theodor Adorno auf einen neuen kategorischen Imperativ: „Das Handeln und Denken so auszurichten, dass Aleppo sich nicht wiederhole.“

Die Nacht ist hereingebrochen. Es ist windiger geworden. Die Berge sind nicht mehr zu sehen, doch der Krieg zu hören. Ich freue mich auf den nächsten Arbeitstag und auf ein Wiedersehen mit den Kindern. Ich werde wieder den Ball mitnehmen. Ich werde versuchen, durch Fußball die Grundsätze des Lebens zu lehren. Ich werde laufen und schwitzen und endlich wieder intrinsisch motiviert Fußball spielen. Ich werde, denn ich bin hier, außerhalb des Spielfeldes, im wahren Leben.

Nun soll ein kleiner Spendenaufruf den Bericht abschließen. Aber wie ihr beim Lesen sicherlich bemerkt habt, bin ich kein Mann der großen Worte. Stattdessen ziehe ich mir nun mein altes Liverpool-Jersey über, summe vergangene Hymnen der Toten Hosen und appeliere mit den Worten Janusz Korczaks an all die Wadenbeißer, Außenbahnläufer, Staubsauger, Jahrunderttalente,  Zehner, Vollblutstürmer, Capitanos und potentielle Bundestrainer:

„Entscheide dich für das, was du tun kannst, und dann tu’s!“

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humedica e. V.
Stichwort „Syrische Flüchtlinge
Konto 47 47
BLZ 734 500 00
Sparkasse Kaufbeuren

Die Syrien-Hilfe könnt Ihr auch einfach und schnell wie der Blog mit einer sms unterstützen: Stichwort DOC an die 8 11 90 senden und von den abgebuchten 5 Euro fließen 4,83 Euro unmittelbar in die humedica-Projekte. Mehr Infos: www.humedica.org

Herzlichst, Euer Ole
Harry Jurkschat

Seit Gründung mit auf dem brennenden BTB-Rasen. Im Gegensatz zu Semmler ist Jurkschat smart. Eine Mischung aus Mehmet Scholl und Günter Netzer. Der ewig 31-Jährige Insiderexperte harmoniert sich von Meppen bis Kiel, ist der Ausbügler und Staubsauger in der 2. Reihe. Dazu kommt aufgrund internationaler Fussball-Erfahrung (6 Länderspiele für Deutschland) Know-How im Wesentlichen. Manko: Bisweilen zu symphatisch und häufig mit den Sekretärinnen beschäftigt.